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Eine Rezension, gefunden auf der Homepage des SPD-Ortsvereins Schwaikheim in BAWÜ:

Buchtipp: Frauen gegen das NS-Regime
Veröffentlicht am 02.03.2024 
In der Nachkriegszeit wurde in der Geschichtsschreibung über den Widerstand gegen das NS-Regime den Frauen meist eine eher passive Rolle als Mitwissende zugestanden. Das Bild korrigiert nun der Journalist Ludger Fittkau mit einem Portrait über die Gewerkschafterin und Sozialdemokratin Käthe Kern (1900 – 1985). Sie gehörte zum engsten Kreis um Wilhelm Leuschner. Verdienstvoll ist Fittkaus Darstellung auch, weil er weitere Frauen aus Leuschners Umfeld einbezieht.
Käthe Kern war in einem sozialdemokratischen Elternhaus in Darmstadt aufgewachsen, begegnete Leuschner, als er 1920 zum Generalstreik gegen den Kapp-Putsch mobilisierte. Kern beruflich und politisch in der Heimvolkshochschule Tinz und der Akademie der Arbeit qualifiziert, arbeitete ab 1925 als Assistentin in der Führung des Allgemeinen Freien Angestelltenbundes in Berlin, von 1928–1933 war sie Leiterin des Frauensekretariats der SPD. Zeitweise führte sie das Reichstagsbüro von Leuschner. Nach der Machtübernahme durch die Nazis konnte sie als Sekretärin im Preussag-Konzern arbeiten. In ihrer arbeitsfreien Zeit war sie Teil des Widerstands-Kreises um Leuschner; ein Netzwerk mit vielen kleinen Zellen verbunden über Knoten. Eine derartige Knotenfunktion übte Käthe Kern über Jahre hinweg aus. Ausführlich beschreibt Fittkau die Entwicklung bis zum Umsturzversuch 1944.
Nach dem Kriegsende folgte Kern der SED, gehörte zeitweise dem Zentralsekretariat an und engagierte sich bei der Gründung des Demokratischen Frauenbundes Deutschland gemeinsam mit Greta Kuckhoff, einer Überlebenden des Widerstands-Kreises Rote Kapelle. Über Jahrzehnte hinweg hatte sie eine Führungsposition im DDR-Ministerium für Arbeit und Gesundheit. „Man lebt ja nicht um seiner selbst willen“, zitiert Fittkau Kern – ein beeindruckender Satz, der wohl Kerns Lebenseinstellung beschreibt.
Insgesamt ist das Buch eine gelungene Aufklärung über Frauen im Widerstand gegen das Nazi-Regime. Ludger Fittkau ist Freier Journalist und Mitarbeiter des Deutschlandradio.
Gunter Lange
Ludger Fittkau, „Man lebt ja nicht um seiner selbst Willen“
Lukas Verlag Berlin
344 Seiten, 29,80 Euro
ISBN 978-3867324359

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Online-Version eines Artikels in der "Frankfurter Rundschau" vom 24.3.2022

Widerstand aus Darmstadt

Käthe Kern war die wichtigste Frau im Kreis um Wilhelm Leuschner, der Adolf Hitler stürzen wollte. Das führte nach dem Krieg zu einer ungewöhnlichen Ost-West-Begegnung. Von Ludger Fittkau.

Käthe Kern als "Covergirl" einer SBZ-Frauenzeitschrift nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. (Quelle: BArch NY 4151/16)

Ende September 1952 findet eine Ost-West-Begegnung statt, die zu diesem Zeitpunkt sehr ungewöhnlich ist. In einem Privathaus mit der Adresse Dieburger Straße 156 im Darmstädter Komponistenviertel treffen sich Ludwig Bergsträsser und Käthe Kern. Bergsträsser ist ein auch über Südhessen hinaus bekannter westdeutscher Sozialdemokrat. Er war einige Jahre zuvor Mitglied des Parlamentarischen Rates, der das Grundgesetz für die Bundesrepublik ausarbeitete, und sitzt nun als Abgeordneter im ersten Bundestag in Bonn. Der gebürtige Elsässer, der schon lange in Südhessen lebt, vertritt in der jungen Bundesrepublik den Wahlkreis Groß-Gerau westlich von Darmstadt.

Käthe Kern, mit der sich Bergsträsser trifft, ist ebenfalls langjährige Sozialdemokratin und hat ihre Jugend in Darmstadt verbracht. Doch seit Mitte der 1920er Jahre lebt sie in Berlin und arbeitet bis 1933 in verschiedenen Funktionen für Gewerkschaften oder SPD-Parteistrukturen. Trotz illegaler politischer Arbeit gegen die Nationalsozialisten und zeitweiliger Inhaftierung überlebt sie von 1933 bis 1945 die Verfolgung und den Bombenkrieg in der Hauptstadt.

Käthe Kern übernimmt nach der durch den massiven Druck der Sowjets beförderten Vereinigung ihrer Partei mit der KPD in der östlichen Besatzungszone wichtige Funktionen im zentralen Machtapparat des SED-Staates – etwa im Zentralkomitee der neuen Einheitspartei. Zum Zeitpunkt des Treffens mit dem westdeutschen Sozialdemokraten leitet sie überdies hauptberuflich die Abteilung „Sozialwesen“ im DDR-Ministerium für Arbeit und Gesundheitswesen. Dort kurbelt sie den Bau von Kinderkrippen an, die es ostdeutschen Frauen ermöglichen, auch mit Nachwuchs werktätig zu sein.

Was die Politikerin aus dem SED-Apparat und ihren ehemaligen sozialdemokratischen Genossen aus dem Westen Anfang der 50er Jahre heimlich zusammenführt, während an der deutsch-deutschen Grenze die ersten Sicherungsanlagen installiert werden, ist die gemeinsame Widerstandsgeschichte im Nationalsozialismus. Beide – Bergsträsser und Kern – gehörten in der NS-Zeit zum konspirativen Kreis um den ehemaligen hessischen Innenminister Wilhelm Leuschner.


Obwohl ihre persönlichen und politischen Wege im geteilten Deutschland Anfang der 50er Jahre bereits deutlich auseinanderlaufen, haben sie in den Nachkriegsjahren ein gemeinsames Anliegen: Leuschner und seine Widerstandstrukturen im Vorfeld des Attentats des 20. Juli 1944 sollen nicht vergessen werden. Käthe Kern ist über Jahre die einzige Frau im bewusst klein gehaltenen, im Grunde nur fünf-köpfigen Berliner Führungszirkel (mit mehreren hundert Eingeweihten im gesamten Deutschen Reich)  der sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen Untergrundorganisation um Leuschner.

Bei vielen Gelegenheiten hebt Käthe Kern auch nach 1945 immer wieder die besondere Beziehung hervor, die sie bereits seit den Zeiten der frühen Weimarer Republik in Darmstadt zu Wilhelm Leuschner hatte, mit dem sie „eine enge Freundschaft verband“. Bereits vor dem Machtantritt der Nationalsozialisten wird sie Zeugin, wie Leuschner noch als Minister des „Volksstaats Hessen“ mit der Hauptstadt Darmstadt vergeblich versucht, andere süddeutsche Staaten für eine Abwehrfront gegen die aus seiner Sicht aus „Preußen“ vordringenden Nationalsozialisten zu gewinnen. Während sie in der NS-Zeit montags bis freitags einer unverdächtigen legalen Arbeit nachgeht, fungiert Käthe Kern nahezu jedes Wochenende in der Privatwohnung der Leuschners als konspirative politische Mitarbeiterin und auch als Kurierin für Wilhelm Leuschner.

Im Zeitraum vom Juni 1934 bis kurz vor dem Befreiungsversuch des Stauffenberg-Attentats hilft Käthe Kern tatkräftig beim Aufbau der Widerstandstrukturen. Sie besorgt Leuschner nach seiner Entlassung aus dem KZ in Berlin eine Wohnung, sie übernimmt die Korrespondenz mit Kontaktpersonen im gesamten Reich, sie begleitet den Freund und Genossen zu heimlichen Gesprächen mit potentiellen Verbündeten gegen Hitler zum Beispiel am Rande von Theateraufführungen. Außerhalb ihrer eigenen Untergrund-Zelle trifft Kern bisweilen auch persönlich Mitverschwörer*innen gegen die braune Diktatur – die christlichen Gewerkschafter*innen Jakob Kaiser und Elfriede Nebgen erwähnt sie namentlich. Käthe Kern fertigt auch für den „Kreisauer“ Theodor Haubach, den sie bereits aus der gemeinsamen Jugend in Darmstadt kennt, schriftliche Arbeiten zum künftigen demokratischen Gemeinwesen oder zum Aufbau einer neuen, gesellschaftlich breiter aufgestellten sozialdemokratischen Partei an, wie sie nach dem Sturz des NS-Regimes gebraucht werde. Nachdem ihre Bleibe in der Würzburger Straße in Berlin durch eine Bombe zerstört wird, lebt sie zeitweise in Wohngemeinschaft mit dem Ehepaar Wilhelm und Elisabeth Leuschner in deren Wohnung.

Wenn der Umsturzversuch des 20. Juli 1944 geglückt wäre – Käthe Kern hätte wohl die Büroleitung Leuschners übernommen, der für die erste Regierung nach Hitler als Vizekanzler vorgesehen war. Dennoch wird bis heute in den meisten öffentlichen Texten zu Käthe Kern lediglich von den „Kontakten“ gesprochen, die sie zum zivilen Flügel der Bewegung des 20. Juli gehabt habe. Dies gilt auch für die bisher wohl gründlichste wissenschaftliche Arbeit zu dieser Widerstandskämpferin – das Portrait, das die Berliner Gewerkschaftsforscher Siegfried Mielke und Peter Rütters vorgelegt haben. In diesem Text wird zwar von „intensiven Kontakten“ gesprochen, die Käthe Kern zur Familie Leuschner unterhielt. Aber: „Ihre Verbindung mit der Familie Leuschner, ihre Teilnahme an Diskussionen über die politischen Perspektiven Deutschlands ‚nach Hitler’ und ihre Tätigkeiten für Wilhelm Leuschner, für den sie ‚politische Ausarbeitungen“ abschrieb, dürften sie jedoch kaum mit konzeptionellen Aufgaben und Planungen vertraut gemacht haben.“ Diese Bewertung zeigt: den beiden Autoren des Textes lagen wichtige Dokumente offenbar nicht vor. Vor allem die Aufzeichnungen, die der Leuschner-Mit-Konspirateur Ludwig Bergsträsser nach dem vertraulichen Gespräch mit Käthe Kern 1952 in Darmstadt anfertigen ließ. Diese Materialien befinden sich heute im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt.

Zwei Jahre vor dem Treffen mit Bergsträsser in Darmstadt war Kern in der DDR mit dem Projekt gescheitert, zum 60. Geburtstag Leuschners am 15. Juli 1950 gemeinsam mit anderen überlebenden Widerstandskämpferinnen und Kämpfern eine Erinnerungsbroschüre zu veröffentlichen. Sie hatte den Bundesvorstand des ostdeutschen Gewerkschafts- Dachverbandes FDGB gebeten, diese Publikation herauszugeben. Die ostdeutsche Gewerkschaftsführung lehnte das mit Schreiben vom 31.1.1950 ab. Im Schreiben an Kern nennt sie zwei Gründe: Zum einen müsse man zunächst „den Hintergrund“ des 20. Juli 1944 aufklären, eine Gedenkbroschüre sei da nicht geeignet. Zum anderen gäbe es keine Notwendigkeit, „in dieser Situation“ eine solche Veröffentlichung herauszubringen.

Diese „Situation“ – damit ist der Stalinismus gemeint, die Sowjetisierung von SED und ostdeutschem Staat, die zu diesem Zeitpunkt bereits weit fortgeschritten ist. „Sozialdemokratische Traditionen“ sollen aus der Geschichte der Einheitspartei getilgt werden. Da passt auch eine intensive Ehrung der Widerstandsarbeit der Leuschner-Leute nicht ins politische Bild.

Käthe Kern findet sich damit nicht ab. Konspiratives Handeln hat sie schließlich gelernt. Deshalb trifft sie den früheren Leuschner-Gefährten Bergsträsser in der alten Heimat. Wenn über die Aktivitäten der Leuschner-Gruppe nicht ausführlich in der DDR geschrieben werden kann, dann eben in der BRD. Käthe Kern muss klar gewesen sein: Wenn in Ost-Berlin öffentlich wird, was sie im Westen vor allem über die politischen Ideen Leuschners und seiner Freund*innen für die Zeit nach einem Sturz Hitlers berichtet, wird es politisch für sie womöglich gefährlich.


Denn der Aufbau einer neuen sozialdemokratischen Partei „von unten“, den ihre politischen Freunde und sie – außer ihr waren nur Männer beteiligt - vor dem 20. Juli 1944 diskutierten, unterscheidet sich diametral von der Kaderpartei sowjetischer Prägung, die Walter Ulbricht für die DDR in dieser Phase gerade durchgesetzt hat. Die sozialdemokratischen Widerständler*innen um Leuschner, so schildert es Käthe Kern 1952 in Darmstadt, hätten sich den Aufbau einer neuen Partei von unten gewünscht: „Aus den Gemeinden“, unter möglichst großer Einbeziehung der Menschen vor Ort. Das ist durchaus auch als eine Kritik an dem zentralistischen Einheitsstaat zu lesen, zu dem die DDR zum Zeitpunkt des Treffens zwischen Kern und Bergsträsser in Darmstadt bereits geworden war.


Der Name Käthe Kern taucht nicht auf, als das von Bergsträsser über Jahre gesammelte Material später in die erste Leuschner-Biografie einfließt, die im Westen veröffentlicht wird. Sie stammt aus der Feder von Joachim G. Leithäuser, der damals schreibt: „Von besonderem Wert waren auch die Unterlagen, die Prof. Dr. Ludwig Bergsträsser für ein Buch über Leuschner gesammelt hatte, das er nicht mehr schreiben konnte.“ Leithäuser nennt etliche Zeitzeuginnen und Zeugen namentlich, die zum Buch beigetragen hätten. Schließlich erwähnt der Autor „Zeugen der Geschehnisse, die ausdrücklich darum baten, dass ihr Name nicht genannt wird“. Käthe Kern, die zum Zeitpunkt der Publikation des Buches weiterhin für die DDR-Regierung arbeitet, ist eine dieser Zeuginnen, die anonym bleiben wollten.

Obwohl Käthe Kern bei ihren Besuchen in Darmstadt immer von Stasi-Mitarbeiter*innen begleitet wird, wie ihr Neffe Hans Joachim Landzettel noch 2022 bestätigt, berichtet sie Ludwig Bergsträsser zu Beginn der 50er Jahre vieles aus ihrer langen persönlichen und politischen Geschichte mit Wilhelm Leuschner. Der Erzählbogen wird vom gemeinsam erlebten Kapp-Putsch 1920 in Darmstadt über das Ende der Weimarer Republik in Berlin bis zu den Ereignissen des 20. Juli 1944 geschlagen, die Kern und Leuschner ebenfalls in vertrauter Nähe in der Hauptstadt erlebten: beinahe ein Vierteljahrhundert gemeinsame politische Geschichte in extremen Zeiten.


Ihr westdeutscher Gesprächspartner Ludwig Bergsträsser hatte von Darmstadt aus die Umsturzbewegung und auch Leuschner persönlich etwa mit Ausarbeitungen zum Schul- und Universitätswesen im Post-NS-Staat unterstützt. Doch er wusste eben nicht genau, was sich in der Hauptstadt vor dem 20. Juli 1944 ereignet hatte. Zu den Prinzipien des Leuschner-Widerstandsnetzes gehörte es, dass nur wenige „Knoten-Personen“ weitere Namen kennen sollten, um unter der Folter nicht zu viele Mit-Konspirateure zu gefährden. Käthe Kern war in Berlin eine dieser Knoten-Personen, erfährt Bergsträsser nun.
Wenige Monate, nachdem Käthe Kern in Darmstadt heimlich die basisdemokratischen Erneuerungsideen des Leuschner-Kreises zu Protokoll gibt, wird der Arbeiteraufstand des 17. Juni 1953 in Ostdeutschland blutig niedergeschlagen. Kern soll angesichts der Repressionen Ulbrichts gegen Kritiker der Gewaltaktionen in einer SED-Gremiensitzung geweint haben. In dieser Zeit sei die ehemalige Sozialdemokratin im SED-Staatsapparat aber bereits auf einen „minderwichtigen Posten abgeschoben“ worden – so sieht es der Zeitzeuge Wolfgang Leonhard. Doch in der zweiten Reihe von Partei und Staat kann sie sich auch in den folgenden Jahrzehnten behaupten. Das ermöglicht ihr auch, weiterhin regelmäßig von Ost-Berlin nach Darmstadt zu reisen. Zumindest die Fahrt im September 1952 nach Südhessen ist ein Akt der erinnerungspolitischen Dissidenz.